Cover Image

Warszawiak, Hermann. Ansprache an meine Stammesgenossen. Breslau: Carl D¨¹lser, 1890.

Ansprache an meine Stammesgenossen

von Hermann Warszawiak

gehalten am 19. Juli 1890

Breslau.

Druck und Verlag von Carl D¨¹lser.

[3]

Bibelvorlesung: Jes. 51, 1-7; 1. Mos. 17, 1-8.

Bei Anwesenheit einer gro?en Unzahl unserer j¨¹dischen Br¨¹der "des auserw?hlten Volkes Israel", welche sich durch die besondere Gnade des HErrn zu unserem Freunde, Herrn Hermann Warszawiak hingezogen f¨¹hlen, gab Veranlassung zu folgender Rede. Nach Stillem Gebet sprach er:

"Geliebte Freunde und Br¨¹der um Eurer V?ter willen!

Der allm?chtige Gott erschien Abram im chald?ischen Lande und versprach ihm, ihn zu einem gro?en Volke zu machen und da? alle V?lker auf Erden in ihm gesegnet sein sollen.

Dieses Versprechen, welches ihm wieder und wieder erneuert wurde, ist Isaak und Jakob wiederholt best?tigt worden, wie Sie es in der Bibel h?ufig finden k?nnen, wie es auch hei?t 1. Mose 12, 1-3. Cap. 13, 14-17. Cap. 15. Cap. 17. Cap. 21, 12. Cap. 22, 15-18. Cap. 25, 2-5, 24. Cap. 27, 26-29. Cap. 28, 10-15. Cap. 32, 24-30. Cap. 35, 9-12. Cap. 46, 2-4. Wie

4

es auch im 105. Psalm hei?t: "Er gedenket ewiglich an Seinen Bund des Worts, das Er verhei?en hat auf viele Tausende f¨¹r und f¨¹r, den Er gemacht hat mit Abraham und des Eides mit Isaak; und stellet dasselbe Jakob zu einem Recht und Israel zum ewigen Bunde."

In dem weiteren Bericht dieses wunderbaren Bundes, welchen Ihr als ein Volk immer genossen oder noch zu empfangen hoffet, find auch die Nichtjuden, wie Ihr, Kinder Israels, eingeschlossen, denn so steht es geschrieben 1. Mose 28, 14: "Durch dich und deinen Samen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden."

Nach Verlauf von 4000 Jahren k?nnen wir die Wahrheit hievon bezeugen; in Abraham und seinem Samen sind wir gesegnet worden, durch ihn sind wir zur Erkenntnis des Gottes gekommen, den Ihre V?ter angebetet haben; in ihm haben wir Frieden gefunden f¨¹r unser Gewissen, Hoffnung und Freude f¨¹r unsere Herzen. In Ihm, von dem der Prophet weissagt: Jesaia 32, 2, da? Er uns Sch¨¹tze vor dem Winde und verberge vor dem Platzregen, da? Er uns sein w¨¹rde wie Wasserb?che in der W¨¹ste und wie der Schatten eines gro?en Felsens im hei?en Lande.

Meine geliebten Br¨¹der! Da wir nun Gnade gefunden haben, wie kann es anders sein, als da?

5

wir tief ger¨¹hrt sind durch die traurige Lage, in der sich diejenigen befinden, von welchen jener Zweig des HErrn stammt (Jesaia 4, 2). Wie kann es anders sein, als da? wir w¨¹nschen, da? auch Sie kommen m?chten und Ruhe finden von Ihren langen Wanderungen unter dem Schutze jenes wunderbaren Namens des HErrn? "Jehovah unser Gerechter"? (Jeremia 23, 6).

Wie k?nnen wir anders als das Wohl jenes Volkes suchen, durch welches unsere Voreltern zuerst dazu gebracht wurden, dem lebendigen und wahren Gotte, statt den stummen G?tzen zu dienen und von dem wir jene Wahrheiten empfangen haben, welche ¨¹berall den Gesalbten bezeugen; und wir wollen nun Euch zurufen wie Moses zu seinem Schwiegervater sagte: "Komm mit uns, so wollen wir dir Gutes thun." 2. Mose 10, 29. Wie d¨¹rfen wir allein die Vorrechte genie?en, unter Gottes Kinder gerechnet zu werden, w?hrend Ihr, seine nat¨¹rlichen Kinder und Erben ausgesto?en und verlassen seid? Wir wollen arbeiten f¨¹r den Hirten Israels, Seine Schafe zu suchen und sie zu erretten aus allen Orten, wo sie zerstreut waren, und ist es mein t?gliches Gebet, der HErr m?ge Eure Herzen geneigt machen, dasselbe aus unseren H?nden zu empfangen, und m?gen viele unter Euch bald Eures fr¨¹heren Segens eingedenk sein und des Fluches, der Euch verfolgt hat unter den

6

Nationen, wohin der HErr, Euer Gott Euch versto?en hat, und in voller Aufrichtigkeit sich zu dem Erl?ser wenden und auf den ewigen Altar schauen, wo das gerechte Lamm, das mit Seiner Gerechtigkeit uns gerecht machte, starb.

Ich wei? es wohl, da? viele Juden die Christen oft darum mit Abscheu betrachten, weil sie glauben, da? die Tr?ger dieses Namens die Urheber des Ungl¨¹cks sind, welches sie ertragen; so erkl?re ich von vornherein, da? ich, wie auch alle meine Mitbr¨¹der nur diejenigen f¨¹r Christen halte, deren Religion auf Gottes Wort gegr¨¹ndet ist, wie die Propheten, geschrieben, und darum niemals Verfolger der Juden sein k?nnen, indem sie ¨¹berhaupt nicht verfolgen d¨¹rfen; ein guter Christ liebt den Juden gerade wie seine Glaubensgenossen, ja vielleicht noch mehr, wenigstens habe ich als Proselyt gen¨¹gend solche Erfahrung gemacht.

(Hier sprach unser Freund ¨¹ber manche seiner Erfahrungen in der christlichen Liebe, was auf die Juden sehr zu wirken schien.) Wir wissen auch, da? die Juden sich an dem G?tzendienst und an den Mi?br?uchen sto?en, welche in vielen L?ndern herrschen, welche der Religion Jesu zu folgen behaupten; Ihr wisset aber so gut wie wir, da? solche Dinge verboten sind, durch das neue wie durch das alte Testament. Diejenigen, welche die Heiligen und die Engel

7

"anbeten", gewi? aber, die sich vor gemachten G?tzen beugen, keinesfalls Christen sind, sondern Widerchristen, die wir verabscheuen so sehr wie Ihr.

Auch sind die Grausamkeiten und Unterdr¨¹ckungen, welche Ihr oft erlitten habt, im entschiedensten Widerspruch mit unserer heiligen Religion, welche uns lehrt, da? wir unseren N?chsten behandeln sollen, wie wir w¨¹nschen von ihnen behandelt zu werden. Wir gedenken mit betr¨¹btem Herzen, wie Ihr so oft von bitterer Feindseligkeit gelitten habt, aber wir bitten Euch zu bedenken, da? solche Dinge geschahen zu einer Zeit, in welcher die wahren Anh?nger Jesu eben so sehr verfolgt wurden, wie die Juden. (Hier erz?hlte unser Freund ¨¹ber den Verlauf der Verfolgung der Apostel und der wahren Anh?nger des HErrn.)

Und nun, liebe Br¨¹der, la?t uns ruhig und aufrichtig forschen, ob nicht jedes sichtbare Zeichen, welches die heilige Schrift von der Ankunft des Messias giebt, bei Jesus von Nazareth in Erf¨¹llung gegangen ist! Euer Vater Jakob weissagte: 1. Mose 49, 10: "Es soll das Scepter von Juda nicht entwendet werden, noch ein Meister von seinen F¨¹?en, bis da? der Held komme, und demselben werden die V?lker anh?ngen."

Und nun: das Scepter verschwand, also Jesus erschien, und zu Ihm sind schon gro?e Scharen der

8

V?lker gekommen, wie wir selbst mit unseren Ohren vernehmen, Ihr habt also hier ein doppeltes Zeichen, da? Jesus der wirkliche Messias ist.

Dann weissagt der Prophet Haggai, als der zweite Tempel gebaut wurde. 2 Cap. 8: "Alle Heiden will ich bewegen, da soll kommen aller V?lker Trost, und ich will dies Haus voll Herrlichkeit machen." Was war denn die Herrlichkeit dieses Tempels mehr denn der V?lkertrost durch das Erscheinen des Erl?sers der sich selbst einen Tempel lauterer Gottesherrlichkeit aufgebaut hat? Denn der steinerne Tempel (n?mlich der zweite Tempel) besteht nicht mehr, da er zerst?rt wurde kurz nachdem Jesus kam; aber der volle Herrlichkeitstempel, der da ist der Leib des eingebornen Sohnes Gottes, durch dessen Blut Sie und ich und alle V?lker Trost empfangen, erhebt sich vor unseren Augen in der christlichen Kirche. Ihr habt deshalb hier wieder ein zweifaches Zeichen, da? Jesus der Messias ist.

Jesaias weissagte, da? Jesus von den Juden zur¨¹ckgewiesen werden wird, aber da? die Heiden an Ihn glauben werden, wie in den prophetischen B¨¹chern zu lesen ist. Das finden Sie gen¨¹gend an folgenden Stellen: Cap. 42, 1-12 und 22-25, Cap. 49, 1-6, Cap. 43, Cap. 54, 1-3, Cap. 55, 1-5, Cap. 65, 1-2.

9

Dies ist vollst?ndig in Erf¨¹llung gegangen bei Jesus von Nazareth und beweist auf's Klarste, da? Er der Messias ist.

Daniel, einer der gr??ten Wohlth?ter Eures Geschlechtes, der wie ein anderer Jakob Macht bei Gott und Menschen hatte, weissagte, da? zu einer bestimmten Zeit der Messias, der F¨¹rst, erscheinen w¨¹rde und "ausgerottet" werden w¨¹rde, obschon nicht f¨¹r sich selbst, und da? nachher die Stadt und das Heiligtum durch Krieg zerst?rt werden w¨¹rde; das Opfer und Speisopfer aufh?ren wird und eine Flut von Verw¨¹stungen bis zu einer bestimmten Zeit fortfahren werde, Cap. 9. Alles dieses ist bei Jesus in Erf¨¹llung gegangen. Siebenzig prophetische Wochen oder 490 Jahre sind von der Zeit, als Esra das Gesetz wieder herstellte, bis zu der Zeit hin vergangen, in welcher Eure V?ter Jesum t?teten; nicht lange nachher, wie wir alle wissen, wurde Jerusalem zerst?rt, und Ihr seid seitdem, wie ein anderer Prophet erkl?rt ohne K?nig, ohne Priester, ohne F¨¹rst, ohne Reich und ohne Opfer geblieben (Hosea 3, 4.) Euer Land blieb verw¨¹stet, Ihr selbst Fremde im Auslande und allenthalben verfolgt durch die offenbaren Zeichen eines g?ttlichen Unwillens. Ihr habt daher mannigfache Beweise, da? Jesus der Messias ist, und zwar Euer eigener Messias, wie auch aus Euren eigenen Propheten hervorgeht.

10

Ach! wie w¨¹nschte ich, Euch ¨¹berreden zu k?nnen, meinem Beispiele zu folgen und den Messias, den Gott Jakobs, auch als Euren Messias anzuerkennen, wenigstens Euch Alle ¨¹berreden zu k?nnen, das Neue Testament selbst zu lesen und zu pr¨¹fen. Ihr m?chtet dann durch die Lehre des Geistes Gottes gewi?lich ausfinden, da? es nicht verwerflich sei, sondern in Wahrheit Gottes Wort ist. Ihr w¨¹rdet allerdings finden, da? es keine neue Offenbarung ist, sondern auf Eurer eigenen geliebten Schrift beruht und best?ndig Bezug darauf nimmt. Ihr w¨¹rdet sehen, da? die Lehre der Apostel dieselbe, wie die der Propheten ist und ihre Moral nichts anderes als die zehn Gebote; Ihr w¨¹rdet mit Bewunderung und Freude finden, da? der lange versprochene Erl?ser bereits gekommen ist, der Zweig aus dem Stamme Isai (Jesaia 11, 1) und doch Davids HErr (Psalm 110, 1) das Kind geboren, der Sohn gegeben, dessen Name ist: Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friede-F¨¹rst (Jesaia 9, 6), dessen Geburtsort Bethlehem-Ephrata sein sollte, dessen Ausgang jedoch vom Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. (Micha 5, 1.)

Sicherlich werdet ihr zugeben, da? Alles, was Euch als ein Volk angeht, von gro?er Bedeutung ist; ist es nicht wahr, da? immer seit der Zeit, da Eure V?ter den Sohn Davids, der sich f¨¹r den

11

Messias erkl?rte, kreuzigten und das Heil verwarfen, welches durch Seine Apostel gepredigt wurde, Euer Volk sich in Not und Tr¨¹bsal befindet, Eure b¨¹rgerlichen und heiligen Stiftungen aufgeh?rt haben, das heilige und sch?ne Haus, worin Jehovah gepriesen wurde, vom Feuer zerst?rt und alles, was Ihr Sch?nes hattet, zu Schanden geworden ist, Eure St?dte w¨¹ste geworden find, ohne Einwohner und Euer Land verw¨¹stet ist? Der HErr hat Euch zerstreuet unter die Heiden und zerst?ubet in alle L?nder, und unter denselben V?lkern habt Ihr kein bleibendes Wesen gehabt und Eure Fu?sohlen haben keine Ruhe gehabt, Euer Leben hat vor Euch geschwebt, und Tag und Nacht habt Ihr Euch gef¨¹rchtet und waret Eures Lebens nicht sicher.

Glaubt mir, liebe Freunde, ich hebe diese Dinge nicht hervor, um Eure Tr¨¹bsal zu vermehren, sondern allein aus Liebe zu Euren Seelen; sicherlich Ihr, sowohl als auch wir, k?nntet die Frage stellen: "Was ist das f¨¹r ein gro?er, grimmiger Zorn, warum hat der HErr die Tochter Zion mit Seinem Zorn ¨¹bersch¨¹ttet und die Herrlichkeit Israels vom Himmel auf die Erde verworfen"?

Es ist nicht genug zu sagen, da? Ihr ges¨¹ndigt habt; Eure V?ter s¨¹ndigten oftmals und wurden durch ihre Feinde in die Gefangenschaft gef¨¹hrt; aber wo in ihrer ganzen Geschichte werdet Ihr eine

12

Gefangenschaft wie diese finden? Selbst als sie nach Babylon gef¨¹hrt wurden, dauerte die Verw¨¹stung Jerusalems nur 70 Jahre; aber jetzt 18 beinahe 19 Jahrhunderte lang ist die heilige Stadt mit F¨¹?en getreten und Ihr aus dem Lande Eurer V?ter verworfen. Wenn Menschen S¨¹nder sind, wie das Wort Gottes und unser eigenes Gewissen bezeugt, und wenn Jesus Christus der Same des Weibes ist, der den Kopf der Schlange zertreten sollte (1 Mose 3, 15), dann kann keine S¨¹nde so gro? und so widerw?rtig gegen Gott sein, als die Verwerfung dieses gro?en Erl?sers. Solltet ihr dann nicht untersuchen, ob dies nicht die wahre S¨¹nde sei, die auf Euch liegt? Es ist klar, da? von der Zeit an, als Ihr verweigertet, Jesum als Euren Erl?ser anzunehmen, Gott Euch verweigert hat als sein Volk anzuerkennen; es kann sein, da? Ihr oft in Eurem Herzen gesagt habt: warum fasten wir und Du siehest es nicht an? warum thun wir unserem Leibe wehe, und Du willst es nicht wissen? warum haben wir so viel gebetet, und doch willst Du uns nicht h?ren?

Liebe Br¨¹der! Wie aber, wenn Ihr finden solltet, da? Eure H?nde voll Blutes sind des Blutes Dessen, der der N?chste des Allm?chtigen ist; (Sacharja 13, 7.) wie, wenn Ihr finden solltet, da? Euer K?nig bereits gekommen ist; da? Ihr aber nichts von Ihm wissen wolltet, da? Ihr Ihn verachtet und Ihn f¨¹r einen L¨¹gner haltet?

13

Ist es nicht merkw¨¹rdig, da? der Verfall Israels gleichzeitig mit der Verwerfung Jesus zusammentraf? das Wohl der Heiden dahingegen gleichzeitig mit ihrem Glauben an seinen Namen begann? Es mu?te doch ein wunderbarer Anblick gewesen sein in den ersten Jahrhunderten nach Christo, wie das Evangelium von Christus die Tempel der G?tter allerw?rts zerst?rte und die G?tzendiener zu heiligen und frommen Verehrern Jehovahs erhob. Dieselben Wirkungen folgen noch immer, wo dieses Evangelium in Wahrheit angenommen und empfangen wird. Ach! wie preise ich Gott, und wie preisen wir all die Gnade des HErrn, da? durch die Erkenntnis des Messias ein solches aufrichtiges Volk entstanden und die christliche Religion so hoch gestiegen ist. Fr¨¹chte wie diese werden nicht durch eine falsche Religion erzeugt, sie k?nnen nur wachsen auf dem Felde, welches mit dem heiligen Samen des g?ttlichen Wortes bes?et ist; es ist unm?glich da? unter den Christen, wo es so viele aufrichtige Verehrer Jehovahs giebt, wir nicht erwarten sollten, einst selig zu werden, gerade wie unsere V?ter Abraham, Isaak und Jakob. Wir beten Gott an in Seiner allerh?chsten Liebe, die Er je den Menschenfindern erwiesen hat, und das ist nichts anderes als die ewige Erl?sung von unserer S¨¹ndenschuld, welches f¨¹r mich und Sie und die ganze Welt geschehen ist und das

14

ist das ewige Opfer "das Blut Jesu Christi". Und nun rufe ich Euch zu, wie Gott Abraham rief und wie Moses seinem Schwiegervater rief; und als Diener meines HErrn Jesu Christi rufe ich Euch S¨¹ndern, wie Er selbst alle S¨¹nder zum ewigen Leben gerufen hat: "Kommt, liebe Br¨¹der, ach kommt zum Heil, die Last ist leicht und das Joch ist sanft."

Der HErr sei uns nahe und sei Ihnen gn?dig, da? Sie Ihn leicht finden m?gen!

Amen!